Offener Brief von Thomas Brussig an "Help e.V."

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Thomas Brussig, Knaackstr. 70, 10435 Berlin, Tel/Fax: 030-4457727, t.brussig@berlin.snafu.de



Hilfsorganisation für die Opfer politischer Gewalt - Help e. V.
Alexander Hussock
Ruschestr. 103
10365 Berlin


Riesweiler, den 28. Jan 2000



Sehr geehrter Herr Hussock vom "Help e.V."-Vorstand,

einer dpa-Meldung entnahm ich, dass der "Help e.V." gegen den "Sonnenallee"-Regisseur Leander Haußmann Strafanzeige wegen "Beleidigung der Maueropfer" stellte. Da ich derjenige bin, der ihn zu diesem Abenteuer anstiftete, können Sie auch gegen mich Strafanzeige stellen.
Zu reden ist von einer Beleidigung. Kein Zweifel – es gibt sie. Doch die "Beleidigung der Maueropfer" besteht nicht darin, was "Sonnenallee" zeigt. Die Beleidigung liegt außerhalb des Films. Sie besteht darin, daß sich kaum jemand für die Opfer politischer Gewalt in der DDR interessiert, sie besteht darin, daß es keine Reue gab und gibt, sondern nur allgemeines Schulterzucken von Menschen, die plötzlich keine Täter mehr gewesen sein wollen. Und wo es keine Täter gibt, kann es auch keine Opfer geben. Daß viele Opfer eine derartige Entwertung ihrer Erfahrungen erleben, sehe ich wohl, und ich sehe es mit Schmerz.
Die Opfer politischer Gewalt haben ein Recht auf Wiedergutmachung für das erlittene Unrecht. Dieses Recht steht auf dem Papier, es einzulösen ist ein höchst ehrenwertes Anliegen Ihres Vereins.
Ihre Klienten berichten sicher oft, daß sich niemand für ihr Schicksal und ihre Gefühle interessiert. Ich interessiere mich für die Gefühle der Opfer, die auf dem erlebten Unrecht sitzengelassen werden, für ihre Hilflosigkeit und ihre Verbitterung. All diese Gefühle sind mir ein Theaterstück wert (das im Herbst d.J. Uraufführung haben wird).
Mir ist egal, was eine ehemalige Schuldirektorin oder ein Filmkritiker zu "Sonnenallee" meint, aber mir ist nicht egal, wie die Opfer politischer Gewalt, ihre Klienten also, damit umgehen. Wenn es Sie interessiert – Ihre Anzeige enttäuscht mich, aber sie wundert mich nicht. Ein Trauma ohne Resonanz will sich Gehör verschaffen. Und das um so dringender, je erfolgreicher "Sonnenallee" ist: Bald wird die magische 2,3-Millionen-Grenze geknackt sein, und "Sonnenallee" wird mehr Zuschauer haben als die SED Mitglieder hatte.
Wie stellen Sie sich eigentlich den Prozeß vor? Ein Richter, der voller Vorfreude ins Gerichtsgebäude kommt, weil er in der Beweisaufnahme "Sonnenallee" zeigen wird, ein proppevoller Gerichtssaal mit Leuten, die in den Genuß einer Gratis-Vorstellung kommen wollen, kichernde Schöffen... Spätestens dann kapieren Sie, daß die "Sonnenallee"-Macher einzig und allein etwas in die Welt gesetzt haben, was die Gefühle von vielen Menschen trifft.
Sie wissen, daß Ihre Anzeige keine Aussicht auf Erfolg hat; das Grundgesetz schützt die Freiheit der Kunst. Womit bezahlen Sie einen Prozeß, den Sie nur verlieren können? Ich darf diese Frage stellen, denn ich habe "Help e.V." im Oktober 1999 eine Spende zukommen lassen, und zwar in einer Höhe, wie ich nie zuvor gespendet habe. Ich durfte annehmen, daß diese Spende zu einem guten Zweck verwendet wird; in meinem Bekanntenkreis gibt es ein Stasi-Opfer, das dank "Help e.V." entschädigt wurde. Ich sehe mich nun in einer paradoxen Situation: Ich muß annehmen, daß die Spende, die ich Ihnen machte, dazu genutzt wird, gegen einen Regisseur vorzugehen, weil der einen Stoff verfilmte, den ich ihm antrug.
Eine Opferorganisation sollte die unselige Isolation zwischen verletztem Opfer und desinteressierter Gesellschaft zu überwinden trachten, anstatt diese Isolation durch lächerliche Anzeigen mit noch lächerlicheren Begründungen zu verhärten.


Thomas Brussig